Dr. Carl Lüderitz – Armenarzt in Kreuzberg
Nicht berühmt werden ist auch eine Alternative
Zum Bild: Carl Ferdinand Lüderitz, stehend mit Vollbart, scheint versunken in den Lesestoff. Der Schnurrbartträger auf dem Sofa, weltgewandt mit Zigarette aus dem Bild herausschauend, ist sein großer Bruder Albert, der Kaufmann in der Familie. Hingegen schaut Hermann, der reiselustige Vollbartträger mit dem Finger auf der Karte, zu seinem großen Bruder Carl hinauf. Auf Augenhöhe mit Carl, ebenfalls mit Buch in der Hand, begegnet uns der selbstbewusste Blick der Malerin, Carls Schwester Elisabeth. Die Mutter Lucie wirkt mit Blick auf Carl fast ein wenig besorgt – kein Wunder, als alleinerziehende Witwe mit vier Kindern im Berlin der 1870er.
Lebensträume in Zeiten des Umbruchs
Das wünschten sich Menschen zu allen Zeiten: ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Carl Ferdinand Lüderitz zum Beispiel, geboren 1854 in Berlin-Friedrichstadt, Markgrafenstraße Ecke Zimmermannstraße. Es war eine Zeit gewaltiger Umbrüche in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Industrialisierung versprach Reichtum und Aufstieg, die Stadt wuchs rasant, Wohnungen wurden knapp. Es war die Zeit großer Entdeckungen in der Wissenschaft, auch die von Utopien von einer anderen, gerechteren Welt. Und gleichzeitig die Zeit von Kriegen, Seuchen, Armut.
Carl hatte Glück. Er gehörte zur feinen Gesellschaft von Berlin, ein Kaufmannssohn mit Ambitionen zu Höherem. Als junger Mann träumte er davon, Künstler zu werden, Musik und Malerei interessierten ihn. Er entschied sich dann aber doch für ein Medizinstudium. Seine Mutter Lucie machte es möglich. Carl war 16, als sein Vater starb und die Familie ohne Einkommen zurückließ. Immerhin war da noch das Haus: Die Witwe verkaufte es und finanzierte so zwei Söhnen ein Studium, der Tochter eine Karriere als Malerin. Lucie selbst zog in der Folge immer wieder um, in immer kleinere Mietwohnungen in Berlin.
Carl zog es zunächst nach Jena, wo er unter der Obhut seines großen Vorbilds Prof. Hermann Nothnagel studierte, ein Cousin von ihm. Carl zeigte Ehrgeiz und Talent. Seine Forschungen zur Darmperistaltik gelten als Grundlage zum Verständnis des menschlichen Verdauungsapparats. Dafür hätte er berühmt werden müssen. Ist er aber nicht. Warum nicht?
Armenarzt in Kreuzberg
Vielleicht war er dann doch nicht fein genug für die ganz feinen Berliner Gelehrtenkreise, wohin er nach seinem Studium zurückkehrte. Sein Mentor Nothnagel forschte weit entfernt in Wien, und die Berliner Charité war ein hartes Pflaster für Emporkömmlinge. Vielleicht fehlte Carl auch schlicht das Geld, um in der obersten Liga mitmischen zu können. Er führte seine Praxis und war Armenarzt in Kreuzberg, versorgte Prostituierte, Waisenkinder, Obdachlose, aber auch alle Menschen ohne Krankenversicherung – damals rund 85 Prozent der Berliner. Dafür zahlte der Staat ein Salär, reich wurde Carl davon nicht. Vielleicht hatte er – bei aller Liebe zur Wissenschaft – aber auch einfach keine rechte Lust, sich ganz und gar der Forschung und dem Forschungsbetrieb zu verschreiben, weil ihm die Praxis oder auch ganz andere Dinge mehr am Herzen lagen. Waldsieversdorf zum Beispiel. Oder gar Ida?
26 Jahre lang, von 1882 bis 1907, arbeitete Dr. med. Carl Ferdinand Lüderitz als praktischer Arzt in Berlin. Die Suche nach den richtigen und bezahlbaren Praxisräumen schien wiederum ein Problem zu sein. In den ersten Jahren zog er fast jährlich um, bevor er 1890 am Mariannenplatz endlich das Richtige gefunden zu haben schien. Doch 1907 drehte er den Schlüssel seiner Praxis um und verschwand.
Waldsieversdorf lautete seine neue Adresse nun. Dort hatte Ferdinand Kindermann, ein zu Reichtum gelangter Industrieller aus Stettin, in eine eigene Villensiedlung investiert. Idyllisch gelegen am See, mit eigenem Wasserwerk, eigener Schule und Heilanstalten. Die „ländlichen Heimstätten“, wie Kindermann sie nannte, sollten ein Leben in guter Luft erlauben. Emissionen waren laut Bauauflagen streng reglementiert.
Landleben mit Ida
Den alteingesessenen Herrschaften passte das überhaupt nicht, handelte es sich hier doch um ihr bevorzugtes Jagdrevier. Zusätzlichen Argwohn erweckte es, dass Kindermann ausgerechnet im sozialdemokratischen Magazin „Vorwärts“ um Käufer für die Villen warb. Kindermann wurde mit Prozessen überzogen, gewann aber alle, baute seine Kolonie und begrüßte in seinem Sanatorium Gäste wie Hans Fallada und Karl Liebknecht. Carl Lüderitz stieg früh in das Projekt ein, kaufte relativ günstig gleich zwei Häuser mit Grundstücken, veräußerte kurz darauf eines davon und konnte vom Gewinn den Rest seines Lebens leben.
Eine Stelle nahm er nicht mehr an, eröffnete keine Praxis, veröffentlichte keine Bücher. Auch eine Familie gründete er nicht, doch offensichtlich gab es Menschen, die ihm wichtig waren. Carl lebte in dem Haus mit Ida Kreutzfeld. „Tante Ida“ nannte man sie im Dorf, sie galt als Carls Haushälterin, wurde von Besuchern aber auch mal für die „Dame des Hauses“ gehalten. Bei ihrem Einzug in Waldsieversdorf war sie 28 Jahre alt, Carl war damals 52. Die beiden verbrachten 24 Jahre gemeinsam in dem Haus. 1930 starb Carl hier. Ob Ida und er ein Paar waren, weiß man nicht. Liebesbriefe existieren nicht, aber ein Testament: Darin vermachte Carl das Haus Ida Kreutzfeld zur freien Verfügung. Nach ihrem Tod sollte es jedoch zurückgehen an die Familie Lüderitz.
Text: Ursula Pfennig
Die Familie Lüderitz - das Buch
Es begann mit der Suche nach einem Foto von Dr. Carl Lüderitz und endete in einer Familienchronik über drei Jahrhunderte. In dem Buch „Die Familie Lüderitz“ trugen die drei Autoren – ein Humanbiologe, ein Historiker und ein Psychologe – Unmengen von Material zusammen und erlauben Einblicke in eine Recherche zwischen Google und Kirchenarchiven.
Paul Enck, Gunther Mai, Michael Schemann: Die Familie Lüderitz. Geschichte und Geschichten aus drei Jahrhunderten. Hayit Sachbuch, Köln 2021, 19,99 Euro
Das Buch ist auch als E-Book hier erhältlich.