Kaiserzeit und Moderne Grundstein für das heutige Berlin
von Michael Bienert und Elke Linda Buchholz*
Das Haus, in dem wir wohnen, ist kurz vor dem Ersten Weltkrieg gebaut worden. Wie viele Häuser aus dieser Epoche hat es seine ornamentierte Stuckfassade verloren. Mit seinem fadgelben Putz wirkt es unscheinbar, doch viele schöne Jugendstildetails verleihen ihm noch immer eine besonders wohnliche Atmosphäre:
die abgerundeten Glasfenster der Haustür und die eingekerbten Pflanzenornamente an den Wohnungstüren, das gedrechselte Holzgeländer oder die angenehm in der Hand liegenden Messingklinken der Doppelfenster. Die Räume sind höher als in neueren Wohnhäusern, an manchen Decken sind Stuckrosetten erhalten. Der Zuschnitt der Räume hat sich über Jahre als zweckmäßig für das Familienleben erwiesen. Das Knarren der alten Dielen nimmt man gerne in Kauf.
Aus unseren Schreibzimmern schauen wir auf die Stukkaturen eines Mietshauses, das der Besitzer aufwändig restaurieren ließ. Die ganze Straße ist in der Kaiserzeit angelegt worden, schon damals verkehrte eine nahe Straßenbahnlinie in die Berliner Innenstadt.
Auch unser Sohn benutzt sie an Regentagen, um zur Schule zu kommen. Wie viele Berliner Kinder verbringt er einen großen Teil des Tages in einem ziemlich heruntergekommenen Schulgebäude aus der Kaiserzeit.
Die Hinterlassenschaft jener Epoche umgibt uns alltäglich, ohne dass wir ihr große Aufmerksamkeit schenken. Das ist so, wenn wir die Klospülung betätigen und unsern Unrat der Kanalisation anvertrauen, deren erster Bauabschnitt 1876 in Betrieb genommen wurde.
Das ist so, wenn wir krank werden und in ein Hospital aus der Kaiserzeit eingeliefert werden. Das ist so, wenn spektakuläre Kriminalprozesse in einem der großen Justizpaläste stattfinden. Die erste elektrische Straßenbeleuchtung, das erste Telefon, die erste U-Bahn, das erste Automobil in Berlin - viele Innovationen des modernen Großstadtlebens fallen in die letzten Jahre der Monarchie.
Die Autoren im Deutschen Historischen Museum vor Anton von Werners
Darstellung der Reichstagseröffnung im Berliner Schloss 1888.
Foto: Ingo Buchholz.
Zwischen 1871 und 1918 hat sich die Stadt mit einer heutzutage kaum vorstellbaren Dynamik verändert und ihre heutigen Proportionen angenommen. Als Berlin zur Hauptstadt des Deutschen Reiches gekürt wurde, lebten im damaligen Stadtgebiet gut 800.000 Menschen.
Auf dem Höhepunkt der Verdichtung, im Jahr 1912, waren es über zwei Millionen. Rechnet man die Neubürger in den Umlandgemeinden hinzu, die 1920 in Groß-Berlin aufgingen, so vervierfachte sich die Bevölkerungszahl von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg sogar auf rund 3,6 Millionen. Seither ist Berlin kaum noch gewachsen; inzwischen zählt die Stadt sogar weniger Einwohner. In der Kaiserzeit wurden die städtebaulichen und technologischen Voraussetzungen für das Funktionieren einer so großen Stadt geschaffen; parallel bildete sich eine spezifische Kultur der Millionenmetropole heraus.
Das Kino wurde geboren, aber auch die Geschichte bedeutender Kulturinstitutionen wie des Berliner Philharmonischen Orchesters, des Deutschen Theaters oder des Bode-Museums hat hier ihren Ursprung.
Dennoch schätzten nachfolgende Generationen die Leistungen jener Epoche gering. Militarismus und nationale Selbstüberschätzung führten zum Untergang des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. Die Weimarer Republik sollte ein demokratischer Neuanfang sein, daher mieden ihre Repräsentanten den Pomp, mit dem sich die Monarchie gegenüber einem unmündig gehaltenen Volk in Szene gesetzt hatte. Auch in den Künsten und der Mode grenzten sich die Erneuerer vom offiziellen Formenvokabular der Kaiserzeit ab.
Strömungen wie der Expressionismus, der Futurismus oder der Funktionalismus in der Architektur sind aber keine Erfindungen der Zwanziger Jahre, sie zeigen sich bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Der Mythos der Zwanziger Jahre in Berlin beruht ganz entscheidend auf den Vorleistungen der vorangehenden Epoche.
... Trotz der Kriegszerstörungen, trotz des oft lieblosen Umgangs mit dem Erbe der Kaiserzeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat keine andere Epoche so viel zur Substanz des heutigen Berlin beigetragen.
In den vergangenen 20 Jahren nahm die Wertschätzung dieses Erbes kontinuierlich zu. Historistische Stuckfassaden sind nicht länger als geschmackloser Protz und Pomp verschrieen, werden nicht länger abgeschlagen, sondern denkmalgerecht wiederhergestellt.
Seit dem Fall der Mauer haben überdies viele Orte die Funktionen zurückgewonnen, die sie schon in der untergegangenen Reichshauptstadt besaßen: So ist die Friedrichstraße wieder eine vitale Geschäftsstraße und der Reichstag wieder Sitz des Nationalparlaments.