Banner des Sieges
von Ernst Volland
Das berühmte Foto der Flaggenhissung im Mai 1945 auf dem Berliner Reichstag ist zu einer Ikone der Bildgeschichte geworden. Das Foto symbolisiert das Ende des Zweiten Weltkrieges, das Ende Hitler Deutschlands und damit das Ende des deutschen Faschismus.
Seine feste Verankerung im kollektiven Bewusstsein und die große symbolische Bedeutung dieses Fotos scheint die Frage nach der historischen Wahrheit, die diesem Motiv zugrunde liegt, zu verdrängen. Je häufiger das Motiv publiziert und je öfter es weltweit in Schulbüchern, Zeitschriften und im Fernsehen veröffentlicht wurde, desto vielfältiger sind die Fragen, die an dieses Motiv gestellt werden.
... Denn nicht nur das Foto selbst, das sich im Laufe der Jahre als dasjenige durchgesetzt hat, dass den Sieg über den Hitlerfaschismus symbolisiert, ist ins Zwielicht geraten, auch wer die handelnden drei Soldaten auf dem Foto sind, muss einer Prüfung unterzogen werden.
Abb1. Positionierung der Flagge, Foto: Chaldej, 2. Mai 1945
Das Foto wurde von einem russischen Kriegskorrespondenten der Roten Armee, Jewgeni Chaldej, am 2. Mai 1945 aufgenommen. Ein erster Blick auf die Dokumente sowjetischer und russischer Veröffentlichungen dieses und weiterer Fotos von Flaggenhissungen auf dem Reichstag offenbart eine uneinheitliche, verklärende, aber auch verwirrende und mysteriöse Fülle von Fakten und unterschiedlichstem Bildmaterial. Sicher ist, von allen Varianten der Flaggenfotos hat sich das Foto von Jewgeni Chaldej als das perfekteste und meist veröffentlichte in der Nachkriegsgeschichte durchgesetzt.
Sein Foto wird inzwischen fast ausschließlich mit der Erstürmung des Reichstages und dem symbolischen Ende des Zweiten Weltkrieges verbunden und entsprechend weltweit verbreitet.
Am 2. Mai 1945 stieg der russische Jewgeni Chaldej mit einer deutschen Leica morgens gegen 7 Uhr auf den Reichstag, um ein historisch bedeutsames Motiv zu fotografieren. Unter seinem Uniformhemd trug er eine rote Fahne mit Hammer und Sichel.
„Als der Krieg begann, sprachen alle vom Reichstag. Es war am frühen Morgen des 2. Mai 1945. Ich betrat das Reichtagsgebäude. Überall war schrecklicher Lärm. Ein junger sympathischer Soldat kam auf mich zu. Ich hatte eine rote Fahne in der Hand. Er sagte: ‚Leutnant, dawai, lass uns mit der Fahne aufs Dach klettern.’ ‚Deswegen bin ich ja hier.’ Wir waren endlich oben. Der Reichstag brannte. Er meinte: ‚Wir wollen auf die Kuppel klettern.’ ‚Nein’, sagte ich, ‚da werden wir verbrennen.’ ‚ Na, dann versuchen wir es hier.’ Wir fanden eine lange Stange. Ich suchte nach Kompositionsmöglichkeiten. Es sollte auch etwas von Berlin zu sehen sein. Ich habe einen ganzen Film verknipst, 36 Bilder und bin in der Nacht zum 3. Mai nach Moskau geflogen.”(1)
Abb.2-3 Positionierung der Flagge, Fotos: Chaldej
So beschreibt der Fotograf den Vorgang, der zu dem berühmten Motiv führte. Im Jahr 1945 war er gerade 28 Jahre alt.
Am 10. März 1917, im Jahr der russischen Oktoberrevolution im Donezk-Gebiet in der Ukraine als Sohn einer jüdischen Familie geboren, bastelte sich Chaldej mit 12 Jahren seine erste Kamera
Als Material dafür dienten die Brillengläsern seiner Großmutter. Er besuchte nur vier Jahre die Grundschule und erfuhr keinerlei fotografische Ausbildung.1936 siedelte er nach Moskau über und wurde Fotoreporter bei der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Den Zweiten Weltkrieg begleitete er mit der Kamera seit dem 22.Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, und wurde somit Zeuge zahlreicher Kampfhandlungen, vom Norden bei Murmansk bis ans Schwarze Meer. Chaldej erlebte als Soldat und Fotograf den Rückzug der deutschen Truppen und dokumentierte den Vormarsch der russischen Soldaten auf Belgrad, Budapest, Wien und schließlich Berlin.
Er war Bildberichterstatter bei der Potsdamer Konferenz im August 1945, ebenso bei den Nürnberger Prozessen 1946. Vermutlich war seine jüdische Herkunft der Grund dafür, dass Chaldej trotz seiner außerordentlichen Kriegsreportagen 1948 bei der TASS entlassen wird. In einer schriftlichen Begründung der TASS werden ihm mangelnde fotografische Qualifikationen vorgeworfen. Mit Unterbrechungen arbeitete er bis in die 1970er Jahre bei verschiedenen Zeitungen, später auch bei der der Prawda. Er starb am 6.Oktober 1997 in Moskau.
Abb.4 Jewgeni Chaldej vor dem Reichstag, 1945, Foto: privat
„Ich hisste die Flagge auf dem Reichstag.“ - „Nein ich!“ (Auszug)
Ebenso unübersichtlich und verworren wie die Frage nach der Nähe des Flaggenmotivs zum historischen Ereignis, gestaltet sich die Frage nach den Soldaten, die als erste eine rote Flagge auf dem Reichstag hissten. In feierlichen Veranstaltungen gedachte die Sowjetunion regelmäßig des Endes des „Großen Vaterländischen Krieges“. Anlässlich dieser Veranstaltungen wurde zur Veranschaulichung des Ereignisses das Flaggenfoto von Chaldej medial flächendeckend im Land verbreitet. Bei diesen militärischen Feierlichkeiten auf dem Roten Platz paradierten an exponierter Stelle immer drei Soldaten, die nach offiziellen Angaben jene gewesen sein sollen, die als Erste den Reichstag erstürmten. Jeder in Russland kannte sie, Jegorow, Kanataria und Samsonow.
Abb.40 Drei Flaggenhisser, Foto:Chaldej
Sie wurden zu Helden der Nation ernannt, erhielten höchste staatliche Orden und bekamen in Anerkennung ihrer herausragenden Leistungen im Kampf gegen den Faschismus und für ihre Flaggenhissung auf dem Reichstag eine lebenslange Rente. Damit war für alle unzweifelhaft, dass Jegorow, Kanataria und Samsonow auch jene drei Soldaten waren, die auf dem berühmten Foto von Chaldej abgebildet sind. Mitte der 90er Jahre recherchierten britische Journalisten in Russland jedoch die tatsächlichen Namen der drei beteiligten Flaggenhisser. Sie fanden heraus, dass auf dem Foto von Chaldej nicht die drei hoch dekorierten Soldaten Jegorow, Kanataria und Samsonow abgebildet waren, sondern die Soldaten Alexejev Nicolaiev, Abdullhakim Ismaiilow und Leonid Gorjatschov.
Abb.41 Totenfeier des Flaggenhissers Meliton Kantaria, Tagesspiegel
vom 13. 1. 1994
Der Tod des Unteroffiziers Michail Minins im Alter von 85 Jahren im Januar 2008, wurde auch in den deutschen Medien gewürdigt und gab der Diskussion darüber, wer die Flagge auf dem Reichstag hisste, neue Nahrung. Michail Minin ist nicht auf dem Flaggenfoto von Chaldej zu sehen, er war an dieser Aktion am 2. Mai nicht beteiligt. Minin nimmt für sich aber in Anspruch, der erste überhaupt gewesen zu sein, der den Reichstag erstürmte und die Flagge in den Abendstunden des 30. April hisste:
Gegen 21 Uhr traf die Artillerie ein und eröffnete das Feuer auf den Reichstag.
Der Artillerieaufklärer Hauptmann Vladimir Makow, die Soldaten Zagitow, Lismenko und Borbrow, sowie der Unteroffizier Michail Minin drangen als erste ins Innere des Reichstages und stürmten auf das menschenleere Dach.
Abb.42 Portrait Minin, Foto: Privat
Sie suchten eine geeignete Stelle für die Hissung des Banners und entdeckten, dass die große Skulptur der „Germania“, die sie als eine Art Siegesgöttin auf einem Pferd identifizierten, der geeignete Ort für diesen historischen Augenblick sei.
Minin bestieg die Skulptur und steckte die Flagge in eine Öffnung. Hauptmann Makow nennt den genauen Zeitpunkt dieser Aktion, es ist der 30. April 22 Uhr 40. Andere Zeugen des Geschehens verschoben die Zeit der Aktion auf drei Uhr, 1. Mai 1945, sicherlich um damit das historische Ereignis mit dem wichtigsten Feiertag der Arbeiterklasse zu verbinden.
Oberst Zincenko, soeben ernannter „neuer Kommandant des Reichstages“, beauftragte am 1. Mai 1945 die Makow-Gruppe, ihre Divisionsfahne am höchsten Punkt der Kuppel zu hissen.
Auf dem Dach wimmelte es inzwischen von kleinen Fahnen, winzigen Fetzen aus roten Betttüchern, die jeder Soldat am Dach befestigte, der das Dach erreichen konnte. Der Gruppe Makow gelang es erst in der Nacht des 1. Mai, die Flagge auf der Kuppel zu hissen, so dass die Flagge erst am 2. Mai über Berlin zusehen“ (6) Folgt man dieser Version, wäre Michail Minin der erste Soldat, der die Flagge auf dem Reichstag hisste.
Abb. 43 Medaille „Held der Nation“