Kühlungsborn statt Kinoevent<br><br>
von Katrin Müller de Gámez
Was unternehmen an einem regnerischen, grauen Sylvesternachmittag und -abend, wenn es an wohldurchdachten, früh festgeklopften Plänen fehlt? Alle Welt weiß ganz genau, wohin, nur wir sind unschlüssig bis zuletzt. Aber Hilfe ist in Sicht. Wozu gibt es die Veranstaltungshinweise in der Tagespresse?
Also nachgeschaut, diskutiert, die Auswahl getroffen und nichts wie hin. Ein ausgedehnter Filmabend mit Karikaturen, Büfett und Überraschungen in nettem Ambiente lockt enorm.
Die Vorfreude auf das Erlebnis und der Stolz auf die so schnell getroffene richtige Wahl ist groß. Doch die herbe Enttäuschung folgt auf dem Fuße: 'Ausverkauft' verkündet ein kleiner Zettel am unteren Rand des groß aufgemachten Programmplakates. Und 'Karten sind bis zum 29.12. abzuholen'.
Wir sind zu spät, Tage oder sogar Wochen zu spät. Wer zu spät kommt..., nun, der Rest ist Geschichte. Derartige Überlegungen helfen allerdings nicht, das Problem des 'Wohin an Sylvester' zu lösen, das nun so drängend im Raum steht. Etwas unschlüssig stehen wir mitten auf der Straße, schauen nach rechts, schauen nach links, bis es wieder mal anfängt zu tröpfeln.
'Da könnte man ja auch an die Ostsee fahren', der Gedanke war schon am Tage zuvor - als Frotzelei gedacht - ausgesprochen worden. Wir schauen uns an, ein leichtes, etwas ungläubiges Grinsen in beiden Gesichtern und wissen: dieses Jahr muß Berlin ohne uns auskommen.
Ein Blick auf die Uhr und die Karte, ja, es reicht noch dicke, um bis zum Jahreswechsel Berlins Badewanne zu erreichen. Dann wird 'Suse', das schon längst als vollwertiges Familienmitglied betrachtete Navigationsgerät, programmiert, um den geeignetsten Weg zu errechnen und kurze Zeit später sind wir unterwegs.
'Suse' ist es egal, wo Sylvester gefeiert wird. Sie muckt nicht ein bißchen auf. Kaum sind wir aus der Stadt heraus, werden die Straßen leer und leerer. Wer redet hier von 'endlosen Staus auf der Autobahn'? Das muß ein anderes Deutschland sein. Wir bewegen uns in relativer Einsamkeit, genießen die Umgebung, kein Gehupe, kein nahes Motorengedröhn von hinten, wenn es einer mal wieder sehr eilig hat.
Es bleibt sogar noch genügend Zeit, um an einer Raststätte einen heißen Kaffee zu trinken. Auch die Raststätte ist fast leer, nur zwei weitere Tische sind besetzt. Wahrscheinlich ebenfalls Leute, die noch kurzfristig eine Entscheidung getroffen haben. Oder aber Menschen, die es in jener Nacht umhertreibt, die nicht wissen wohin und die eine Autobahn-Raststätte noch der eigenen Umgebung vorziehen. Wer weiß?
Als es anfängt, nach See zu riechen und wir schon ganz nahe sind, ist es leider bereits fast dunkel. Kühlungsborn verkündet 'Suse' nach ein paar Schlenkern auf kleineren Landstraßen.
Kühlungsborn??? Was ist das?Das ist der größte Bade- und Erholungsort Mecklenburgs, 10 m über dem Meeresspiegel gelegen, genau gesagt: 54° 8′ N, 11° 45′ O 54° 8′ N, 11° 45′ O, also direkt an der Mecklenburger Bucht. Seine Fläche beträgt ganze 16,16 qkm, am 30. Juni 2006 gab es 7345 Einwohner, alles in allem recht überschaubar. Mit 3150 Metern Länge verfügt der Ort über die längste Strandpromenade Deutschlands. Über etwa sechs Kilometer zieht sich der breite Sandstrand hin.
Aus drei Gemeinden, Brunshaupten, Arendsee und Fulgen, ist Kühlungsborn am 1. April 1938 entstanden. Laut Gründungsurkunde ist „Ostseebad“ fester Namensbestandteil. Somit hieße es „Seebad Ostseebad Kühlungsborn“. Zur Vereinfachung einigten sich die Stadtvertreter, den Seebad-Titel nicht anzuführen. Neben dem imposanten Titel verfügt der kleine Ort auch über eine wichtige Einrichtung, nämlich den Sitz des zur Leibniz-Gemeinschaft gehörenden Instituts für Atmosphärenphysik, das in der Nähe das Forschungsradar OSWIN betreibt.
Die Orte Fulgen, Brunshaupten und Arendsee, blicken zurück auf eine lange, bald 800jährige Geschichte. 1177 wurden der Name "Bruno von Cubanze" und „zwei Dörfer Brunos" erstmalig erwähnt. 1219 erscheint dann der Name „Brunshövede" (= Hof oder Hafen des Brunos) in einer Urkunde. Das Dorf wurde zu dieser Zeit vom Landesfürsten einem Nonnenkloster. Arendsee soll von den Nonnen dieses Klosters seinen Namen erhalten haben, und zwar nach dem gleichnamigen Kloster in der Altmark. Fulgen wurde erst während des Dreißigjährigen Krieges erwähnt, als alle drei Dörfer schwer heimgesucht wurden.
Die Bewohner der drei Dörfer lebten lange Zeit über recht ärmlich von Fischfang und Landwirtschaft. Erst Jahrhunderte später sollte sich daran etwas ändern. 1857 ließ der Erbpächter E. Wittholz von Fulgen ein zweistöckiges Logierhaus erbauen und einen Badeprospekt drucken, in dem er sich zur Aufnahme von Badegästen empfahl, und für eine Person pro Woche für Aufwartung, Beköstigung, Logis und Bäder 7 bis 9 Reichstaler je nach Zimmerwunsch berechnete.
Aber die damalige Bedeutung der Badegäste von außerhalb war noch nicht so groß wie heute. Das läßt sich aus folgender Episode entnehmen: Eine verheerende Sturmflut im November 1872 richtete auf dem Hof Fulgen erheblichen Schaden an. Da alle Wiesen und Weideflächen und sogar die Stallungen unter Wasser standen, wurde das Vieh kurzerhand für einige Tage im komfortablen Logierhaus untergebracht.
Seit 1881 kamen Badegäste auch nach Brunshaupten und drei Jahre später nach Arendsee. 1887 zählte man in Brunshaupten rund 600 Einwohner und 300 Gäste. Von Kröpelin aus wurde 1895 mit dem Bau einer Chaussee nach Brunshaupten begonnen. Ab dann fuhr zweimal täglich ein Postomnibus nach Arendsee und Brunshaupten.
Für diese Tour wurde mit Privatfahrzeugen etwa eine Stunde benötigt. Man konnte auch mit einem Zweispänner von und nach Kröpelin ohne Unterbrechung und Aufenthalt für 6 Mark die einfache Fahrt nach Brunshaupten und Arendsee gelangen. Es gab einen Badeverein, der 1899 beschloss, dass eine Warmbadeanstalt gebaut werden sollte. Zu dieser Zeit waren auch schon einige Logierhäuser, wie das „Ostseehotel“ oder die „Strandperle“ bezugsfertig.
Erstmalig wurde ein Promenadensteg von 120 Metern Länge in die Ostsee hinein errichtet. Mit dem Promenadenweg wurde 1900 begonnen, der parallel zum Strand verlief. Am 01. Juni 1901 wurde für die Feriengäste, die sich erstmals auch zu der Zeit der Osterferien einstellten, das bereits erwähnte Warmbad eröffnet.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die Hotels und Pensionen im Dünengelände. Am 04. August 1906 wurden Petroleumlampen als Straßenbeleuchtung eingeführt, da Gas oder elektrische Anlagen bei der großen Ausdehnung von Brunshaupten und Arendsee zu teuer gewesen wären. 1908 bis 1912 entstand die zentrale Wasserversorgungsanlage. 1909 beschloss man, ein Gaswerk zu bauen. Seit 1910 fährt die Bäderbahn Molli von Bad Doberan über Heiligendamm bis Brunshaupten und Arendsee. 1911 erhielten die beiden Orte elektrischen Strom. 1912 steckten rund 17 Millionen Mark an Privatkapital in den Häusern der Badebezirke.
Trotz gemeinsamer Interessen arbeiteten die Gemeinden Brunshaupten (mit Fulgen) und Arendsee getrennt, oft sogar in scharfer Konkurrenz gegeneinander. Viele Einrichtungen gab und gibt es deshalb zweifach (z.B. die Konzertgärten Ost und West, zwei Seebrücken). Die Anzahl der Gäste stieg in den Friedensperioden stark an (1913: 28000 Gäste bei 2600 Einwohnern, 1933-35: 30.000-45.000 Badegäste jährlich, 1970-1981: 130.000-160.000 Badegäste jährlich).
Wir sind also auf geschichtsträchtigem Grund gelandet und wissen dies auch gebührend zu würdigen. Suse sei Dank!
Noch ist ein wenig Zeit bis Mitternacht und Jahreswechsel. Auf der Kühlungsborner Hauptstraße ist nicht viel los. Rechts und links säumen kleine Hotels, Pensionen, Restaurants und auch einige schummrige Kaschemmen die Bürgersteige.
Der Verkehr ist überschaubar, das Flanieren auf der Straßenmitte kein lebensgefährliches Abenteuer. Das wäre auf dem Ku'damm anders gewesen. Neben der gesunden Seeluft und der interessanten Geschichte des Ortes, ein weiterer Pluspunkt für Kühlungsborn. Ein einsamer Diskjockey in einem Trailer an der Seebrücke am Ende der Hauptstraße versucht bereits, ein wenig Partystimmung zu erzeugen.
Nun ja, manchmal ist Musik doch nur ab einem gewissen Alkoholpegel zu ertragen... Zuhörer sind nur vereinzelt zu sehen. Die Restaurants sind dagegen bereits gut gefüllt. Auf der Suche nach einem Fischbrötchen - wir sind schließlich an der Küste!, die Fahrt von Berlin war lang, eine Grundlage für den evtl. durchzustehenden Alkoholexzeß muß geschaffen werden und auch der ganz profane Hunger nagt - laufen wir die Straße entlang.
Tatsächlich findet sich ein Plätzchen in einer Mischung aus Fischgeschäft und Restaurationsbetrieb. Der Hunger wird gestillt, der Fisch schmeckt gut, die Zeit vergeht, wir sind zufrieden. Langsam füllt sich die Straße. Wo kommen nur all die Leute auf einmal her? Und vor allem, wieso sind so viele Jugendliche in diesem Kaff? Jede dritte Hand hält eine Flasche, allerdings nix Gesundes darin. Aber es ist Sylvester, die Bräuche und Traditionen müssen gepflegt werden. Auch die ersten Knaller machen sich bemerkbar.
Wir inspizieren den Strand und freuen uns über die menschenleere Weite, die sich vor unseren Augen auftut. Die kleinen, ruhigen Wellen der Ostsee schwappen leise über den Sand. Nur die Dunkelheit verhindert das Muschelsuchen. Wir sehen uns schon mal nach einem guten Stand- und Sitzplatz für später um. Schließlich soll die aus Berlin mitgebrachte Flasche Sekt ganz romantisch und einsam am Wasser, mit Blick auf das Kühlungsborner Feuerwerk, geleert werden. Ein Platz wird zur Zufriedenheit aller ausgewählt.
Nun noch ein wenig die längste Strandpromenade Deutschlands entlangspazieren und nichts steht mehr einem schönen Sylvester entgegen. Je näher die letzte Stunde des Jahres rückt, desto voller werden die Promenade, die Hauptstraße, die Restaurants, der Platz vor dem Musik-Trailer. Tout le monde scheint sich hier zu treffen.
Ob in Berlin noch genügend Menschen übrig bleiben, um den Platz vor dem Brandenburger Tor zu füllen? Viele beunruhigende Gedanken machen sich breit.
Eine halbe Stunde vor dem bewußten Zeitpunkt machen wir uns schließlich zu dem lauschigen Plätzchen am Ostseestrand auf. Gegen die Kühle der Winternacht mit einer dicken Jacke gut gewappnet, ausgerüstet mit einem Plastikbecher, der Sektflasche und in gespannter Erwartung des Feuerwerks, lassen wir uns auf den Steine einer Mole nieder.
Das Rauschen der Wellen, die leise Musik in der Ferne, alles perfekt. Und dann... müssen wir entdecken, daß wir nicht die einzigen sind, die den Jahreswechsel am einsamen Ostseestrand erleben wollen. Unser lauschiges Plätzchen füllt sich rapide. Die Mole dient jetzt vielen als Anlaufpunkt, Sitzgelegenheit. Die Sektflaschen werden entkorkt, Feuerwerkskörper im Sand aufgebaut, Streichhölzer parat gelegt. Wir rücken ein wenig enger zusammen, aber die Illusion der Einsamkeit ist unwiederbringlich hin.
Nun ja, 6 Milliarden Menschen auf dieser Welt brauchen halt ihren Platz. Kühlungsborn muß dem Tribut zollen. Trotzdem genießen auch wir das Feuerwerk der Stadt, unseren Sekt und die glitzernde Ostsee bis..., ja bis dann 20 Minuten nach Mitternacht der Regen einsetzt und uns in die Flucht schlägt. Winter an der Ostsee ist nun mal kein Zuckerschlecken. Unter einem Vordach auf der Hauptstraße trinken wir den etwas verwässerten Rest des Sektes, stehen mit anderen durchnäßten Sylvester-Feiernden frierend herum, um dann letztendlich uns wieder 'Suse' anzuvertrauen und, die Ostsee im Rücken, nach Berlin zurückzukehren.
Der Rückweg führt wieder über fast auto- und menschenleere Straßen. Ein Zwischenstop an derselben Raststätte wie auf dem Hinweg - nur eben auf der anderen Autobahnseite - bringt schon etwas Vertrautes in die Fahrt. Dann kommen auch bereits die 'Lichter der Großstadt' in Sicht und der erste Tag des Jahres ist nicht mehr jung.
Beim Nachdenken über die letzten Stunden kommen wir zu dem Schluß, daß wir die bessere der beiden Alternativen erlebt haben. Das Kino-Event wäre nicht in so bleibender Erinnerung geblieben.