Darmforschung

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Unser Darm-Hirn – schlauer als man denkt

Interview mit Professor Dr. Michael Schemann

Als Leiter des Lehrstuhls für Humanbiologie an der Technischen Universität München widmet sich Prof. Dr. Michael Schemann dem Forschungsgebiet der Neurogastroenterologie. Ihn interessiert also die Regulation der Darmfunktionen durch Nerven. Das beinhaltet die Frage, wie normale Darmtätigkeiten reguliert werden, aber auch, was die Ursachen für gestörte Funktionen sind und wie man sie behandeln könnte. In folgendem Interview erklärt er leicht verständlich und trotzdem äußerst spannend aktuelle Erkenntnisse aus der Darmforschung.

Warum gerade Darmforschung?

M. Schemann Nun fragen sich sicher viele, wieso man sich für ein solches Igitt-Organ interessieren kann; es produziert Schleimiges und sein Produkt ist für keinen unserer Sinne angenehm.

Es gibt einen wunderschönen Spruch eines amerikanischen Schriftstellers, Josh Billing, Mitte des 19. Jahrhunderts: „Ein verlässlich arbeitender Darm ist mehr wert als jede Menge Hirn". Das fast das Wesentliche eigentlich schon zusammen. Jeder, der schon einmal Reisedurchfall gehabt hat, kann das wunderbar nachvollziehen. Wenn man mit heftigstem Durchfall auf dem Topf sitzt, dann ist einem, man muss es so drastisch sagen, im wahrsten Sinne des Wortes die Hirnleistung „scheißegal“ und auch der höchste IQ hilft nicht weiter. Und das ist gleichzeitig auch das Faszinierende, obwohl es kein wirklich schönes Beispiel ist. Der Darm reagiert vollkommen autonom. Man kann ihn nicht beeinflussen – egal wieviel Hirn man hat – und das macht ihn einzigartig.

Ich gebe ein einfaches Beispiel: Wenn wir eine Lunge in eine Petrischale mit Flüssigkeit legen, wird die Lunge nicht atmen. Wenn wir ein Herz in eine Petrischale mit Flüssigkeit legen, schlägt das Herz ein paar Mal, und dann ist Schluss. Wenn wir einen Darm in eine Flüssigkeit legen, führt er alle lebenswichtigen Funktionen aus, so wie er es normalerweise auch im Körper täte, und das vollkommen autonom, stundenlang, tagelang. Unser Rekord im Labor sind achteinhalb Tage. Es gibt also durchaus faszinierende Aspekte am Darm, die weit mehr sind als igitt.

Was genau ist so faszinierend am Darm?

M. Schemann Zunächst muss man sagen, dass wir das Faszinierende gar nicht mitbekommen. Der Mensch hat etwa zwischen fünf bis sieben Meter Darm. Pro Minute kontrahiert und erschlafft der Darm fünftausend Mal an allen möglichen Stellen. Von keiner dieser Aktivitäten bekommen wir irgendetwas mit. Erst wenn etwas schiefläuft, meldet sich der Darm und zeigt sein Unwohlsein auf unterschiedliche Weise. Bei den sogenannten funktionellen Magen-Darmerkrankungen äußert sich die Irritation des Darms als Durchfall, Verstopfung und Bauchschmerzen. Dann erst merken wir, dass der Bauchraum ein Organ beherbergt. Die Erforschung dieser Probleme ist nicht nur hochspannend, sondern auch enorm wichtig für die vielen Millionen Patient:innen. Immerhin leiden allein in Deutschland mehr als 10 Millionen Menschen an Reizmagen und/oder Reizdarm.

Wen interessiert die Darm-Forschung?

M. Schemann Zunächst bearbeiten Grundlagenwissenschaftler Aspekte, die nicht direkt klinische Relevanz haben. Dazu gehören trivial anmutende Fragen wie zum Beispiel: Wie wird etwas von oben nach unten transportiert? Wie und warum nehmen wir bestimmte Stoffe auf? Wie kommt es zu Bauchschmerzen? Und erst, wenn man diese grundlegenden Fragen im Detail  geklärt hat, kann man sich mit den Ursachen einer krankhaften Veränderung beschäftigen und Fragen bearbeiten wie: Was bedeutet das für die Patient:innen und deren behandelnde Ärzt:innen? Wie kann ich dadurch Krankheiten erklären? Wie kann ich sie besser diagnostizieren? Wie kann ich sie besser therapieren? Das sind die wesentlichen Themen, die Forschende auf Trab halten.

Wieso kann der Darm das, was er kann?

M. Schemann Das Geheimnis liegt in der Wand des Darms. Der Darm schleppt sein eigenes Nervenzentrum mit sich, das sogenannte Darm-Hirn. Dieses Darm-Hirn ist ein Netzwerk aus 200 Millionen Nervenzellen, das sich von Anfang (Speiseröhre) bis zum Ende des Darms (Darmausgang) ohne Unterbrechung erstreckt. Das ist – zumindest für die meisten von uns – die zweitgrößte Nervenzellansammlung im Körper. Die größte befindet sich natürlich immer noch im Kopfgehirn. Aber die Anzahl der Nervenzellen ist mindestens so groß wie im gesamten Rückenmark, also wie all die Nerven, die unsere Muskelbewegung kontrollieren oder die Empfindungen wie Druck, Schmerz, Temperatur.

Wie kann man sich nun die eher abstrakte Zahl von 200 Millionen Nervenzellen plastisch vorstellen? Reihte man sie wie eine Kette aneinander, dann reichte diese ganz locker von Köln bis nach Venedig und zurück.

Es gibt kein anderes Organ, das  sein eigenes Regulationszentrum huckepack mit sich trägt. Andere Organe wie Lunge, Herz oder Niere haben ihre Regelzentren außerhalb des Organs im Gehirn, wo es z.B. ein Atemzentrum gibt, das das Ein- und Ausatmen sicherstellt, oder ein Herz-Kreislaufzentrum, das den Herzschlag und die Blutgefäßweite einstellt. Ein Darmzentrum für unser Gehirn war von Mutter Natur jedoch nie vorgesehen.

Wieso gibt es kein Darm-Zentrum im Gehirn?

M. Schemann Wir stellen uns noch mal vor: sieben Meter Darm. Ein Darmzentrum im Gehirn müsste jeden Millimeter kontrollieren, um die lebenswichtigen Darmfunktionen aufrechtzuerhalten. Das heißt, wir brauchten einen Riesenschädel, um die zusätzlichen Nervenzellen aufzunehmen und einen riesig dicken Hals, um zusätzlich Platz für die Nerven, die Gehirn und Darm verbinden müssen, zu schaffen. Das hat sich nicht als sinnvoll erwiesen. Deshalb hat Mutter Natur gesagt (frei nach der Kölner Band Bläck Fööss): „Mer losse de Nerve em Darm, da seine Eigenständigkeit für die Aufrechterhaltung der Darmfunktionen elementar ist.“

Daraus ergibt sich aber jetzt automatisch die Frage: Hat sich dieses Nervensystem im Darm im Laufe der Evolution aus Teilen des Kopf-Hirns entwickelt? Oder ist unser Gehirn irgendwann als Aussprossung des Darms entstanden? Und da gibt es ein nettes Tierchen, das uns diese Frage beantwortet: ein Süßwasserpolyp, auch Hydra genannt. Es ist ein Nesseltierchen, drei Zentimeter groß, das ein ganzes Leben lang nur an Fressen und Fortpflanzung interessiert ist. Dieses Tierchen hat zwar ein Darm-Hirn, aber kein Kopf-Hirn. Das Darm-Hirn war also in der Evolution tatsächlich vor dem Kopfgehirn entstanden. Aus diesem Darmnervensystem müssen dann zunächst zentrale Ganglien, das sind Anhäufungen von Nervenzellen, entstanden sein und mit der zunehmenden Bedeutung höherer Funktionen irgendwann mal das Gehirn. Das gibt dem Terminus „Hirnfurz“ eine ganz neue Bedeutung.

Warum wird das Darm-Hirn als Hirn bezeichnet?

M. Schemann Das Darmnervensystem, auch enterisches Nervensystem genannt, wird selbst in der Fachliteratur als Darm-Hirn oder zweites Gehirn bezeichnet. Warum Hirn? Das Interessante daran ist, dass das Darm-Hirn, was die Vielfalt der Nervenzellfunktionen oder der Überträgerstoffe angeht, im Prinzip ein Copy-and-paste vom Gehirn ist oder umgekehrt, dass das Gehirn ein Copy-and-paste vom Darm ist. Man findet also genauso viele Überträgerstoffe, man findet die ganze Bandbreite an Nervenzellen, die unterschiedliche Empfindungen wahrnehmen können und autonom Reflexe ablaufen lassen. Das alles begründet den Begriff Gehirn.

Das heißt aber nicht, dass die beiden Hirne nicht miteinander kommunizieren. Natürlich gibt es immer Zwiesprache zwischen Darm und Kopfgehirn, wobei wichtig ist, dass die meisten Informationen vom Darm zum Gehirn gesendet werden und nicht umgekehrt. Das hat natürlich seinen Grund darin, dass es kein Darmzentrum im Gehirn gibt. Das Gehirn möchte zwar wissen, was da im Bauch abläuft, fungiert daher mehr oder weniger nur als Monitor. Daraus hat sich die These entwickelt, dass Geist und Körper eben nicht getrennt sind. Der berühmte portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio unterstrich schon sehr früh die Bedeutung der Kommunikation zwischen allen internen Organen und dem Gehirn und deren Einfluss auf unser Denken, unsere Entscheidungen, unser Empfinden und Wohlbefinden.

Diese Informationen kommen natürlich nicht nur vom Darm, sondern auch von anderen Organen wie zum Beispiel dem Herz. Dieses Mitteilungsbedürfnis der inneren Organe fasst man unter dem Begriff „Interozeption“ zusammen. Daraus erwächst dann auch der Erklärungsversuch für Schmetterlinge im Bauch oder andere Empfindungen als Spiegel der Organaktivitäten.

Was haben Kopf-Hirn und Darm-Hirn gemeinsam?

M. Schemann Kopf-Hirn und Darm-Hirn haben gemeinsam, außer dass sie ähnliche Überträgerstoffe und Übertragungsmechanismen aufweisen, dass sie lernen können. Natürlich kann das Darm-Hirn keine Gedichte lernen oder über sich selber reflektieren. Das heißt, die gesamte Bandbreite des bewussten Lernens fällt natürlich aus. Der Darm hat jedoch die Fähigkeit zum sogenannten impliziten Lernen, also zur unbewussten Aneignung von Fertigkeiten.

Die Nervenzellen im Darm haben exakt die gleichen Fähigkeiten wie die im Gehirn, die für Lernen und Gedächtnis verantwortlich sind. Man kann den Darm auch in gewisser Weise konditionieren. Man kann einem Stück Darm selbst in der Petrischale antrainieren, bestimmte Funktionen zu verstärken (Sensibilisierung) oder abzuschwächen (Desensibilisierung). Alle molekularen und funktionellen Mechanismen, die im Gehirn für Lernen und Gedächtnis verantwortlich sind, gibt es auch im Darm. Der Darm, genauer gesagt das Darm-Hirn, zeigt eine schwächere oder stärkere Reaktion, je nachdem welche Reize mehrfach auf ihn einwirken. Dies hat große Bedeutung für die Entstehung von Darmkrankheiten, die mit einer Sensibilisierung oder Desensibilisierung einhergehen. Eine Desensibilisierung ermöglicht zum Beispiel, trotz massiver Reizüberflutung die Darmtätigkeiten zu normalisieren. Sensibilisierung kann zum Beispiel eine Alarmfunktion haben, die in Form verstärkter Darmtätigkeit zu Durchfall führt um damit schädliche Einflüsse so schnell wie möglich loszuwerden. Ein lernfähiges System speichert solche Abläufe, um bei nochmaliger Herausforderung schneller und stärker reagieren zu können.

Es ist wichtig, solche neurophysiologischen Phänomene in die klinische Anwendung zu bringen; auch das ist Aufgabe der Neurogastroenterologie. Dafür haben wir Methoden entwickeln können, die es uns erlauben, auch im Gewebe des Menschen Untersuchungen zu machen. Dies ist ein entscheidender Schritt, da die Frage nach der Übertragbarkeit der Ergebnisse aus Tiermodellen auf den Menschen entfällt. Einer der wesentlichen Fortschritte war die Etablierung einer Art Darm-Hirn-Bildgebung. Der ein oder andere kennt vielleicht die bunten Hirnbilder, die unterschiedliche Nervenaktivitäten in Regenbogenfarben kodieren. Wenn das Hirn aktiv wird, dann blitzt es überall, und das ist nichts anderes als ein Ausdruck dafür, dass Nervenzellen im Gehirn oder ganze Areale aktiv werden. Durch den Einsatz spezieller Kameras konnten wir auch die Signale im Darm-Hirn mit bildgebenden Verfahren darstellen. Und so wissen wir, wie Nervenzellen die Funktion der Muskulatur beeinflussen, wie Nervenzellen untereinander kommunizieren und über welche Mechanismen diese Signale weiterverarbeitet werden.

Es ist entscheidend, sich immer zu fragen, welche Bedeutung eine bestimmte Nervenaktivität für die Darmtätigkeiten hat. Mit anderen Worten, welches Nervenaktivitätsmuster beeinflusst die Darmmuskulatur, die Schleimhaut oder andere Zielzellen? Nur so verstehen wir wie und wann es zu Durchfall, Verstopfung oder anderen Komplikationen kommt. So können wir die Geheimnisse hinter der faszinierenden Welt des Darms mehr und mehr entschlüsseln.

Was nützen diese Erkenntnisse Patient:innen?

M. Schemann Das ist ja alles erst mal nur beschreibend. Und die Motivation für all diese Untersuchungen, die wir hier machen, liegt im Prinzip darin, dass wir schon immer der Auffassung waren, dass funktionelle Darmerkrankungen, nehmen wir mal das Beispiel Reizdarm, keine eingebildete Erkrankung ist. Das war für viele, viele Jahre ein großes Problem für die Patient:innen, dass eben viele Kliniker folgender Meinung waren: „Das ist mehr oder weniger psychisch und damit müssen die Patient:innen leben. Sie sterben ja nicht davon". Ich war immer schon der Meinung, dass es, zumindest bei einigen Patient:innen, organische Störungen geben muss, auch weil nicht alle Patient:innen von Psychotherapie profitieren.

Also nutzt man die Methoden, die wir zur Beantwortung grundlegender Fragestellungen entwickelt haben, und überträgt sie auf das klinische Setting. Wir haben Untersuchungen an sogenannten Biopsien gemacht, das sind Gewebeproben aus dem Darm. Viele kennen das, wenn im Rahmen einer Darmspiegelung manchmal solche kleinen Darmschnipsel entnommen werden. Das Gute daran ist, dass in diesen Gewebeproben ein Teil des Darm-Hirns ist, das aufgrund seiner Autonomie lange in Isolation überlebt. Auf diese Weise haben wir feststellen können, dass das Darm-Hirn auf Proben von Reizdarm-Patient:innen überreagiert. Diese Hyperreaktivität konnten wir mit der schmerzhaften Empfindung aus dem Darm in Verbindung bringen. Darmproben von Patient:innen, die sehr sensibel auf Reize reagierten, führten auch zu einer stärkeren Aktivierung des Darm-Hirns. Das heißt, man kann sagen, dass viele Reizdarm-Patient:innen an einer Fehlsteuerung des Darm-Hirns leiden.

Ich gebe ein konkretes Beispiel: Eine  Fehlsteuerung basiert auf der verstärkten Wirkung von Proteasen. Proteasen sind wichtig für die Verdauung von Eiweißen. Die sind aber nicht nur für die Spaltung der Eiweiße verantwortlich, sondern auch wichtige  Signalmoleküle im Darm-Hirn. Und solche Proteasen sind bei einigen Reizdarm-Patient:innen extrem aktiv. Das kann man mit der Funktionsstörung bei Reizdarm-Patient:innen korrelieren. Darüber hinaus passt es zu der Beobachtung, dass manche Patient:innen von Probiotika profitieren. Ein Teil dieser Probiotika produzieren Substanzen, die Proteasen hemmen.

Eine weitere Herausforderung für das Darm-Hirn sind sogenannte Neuroimmun- Kommunikationsstörungen. Dazu muss man wissen, dass der Darm das größte Immunsystem in unserem Körper ist. Wir essen ja nichts Steriles. Wir brauchen sehr viele Immunzellen im Darm, um all das, was nicht steril ist oder einfach nicht aufgenommen gehört, zu bekämpfen. Man muss sich vorstellen, dass der Darm ein Leben lang als Ausdruck der Abwehr potentiell schädlicher Stoffe immer leicht entzündet ist. Das heißt, er ist immer in Habachtstellung, immer unter Stress und immer bereit, auf Alarmsignale zu reagieren. Verstetigt sich diese Situation, kommt es auch chronisch zu funktionellen Störungen. Das erklärt ein Phänomen, das wir als postinfektiösen Reizdarm bezeichnen. Patient:innen, die eine Magen-Darm-Infektion durchgemacht haben, entwickeln noch lange Zeit nach ausgeheilter Entzündung Reizdarmsymptome. Das was aktuell im Zusammenhang mit der Corona-Infektion diskutiert wird, also Long Covid, kennen wir bei Darmerkrankungen schon seit Jahrzehnten. Und der Hintergrund dafür ist eben diese ausgeprägte und überbordende Aktivierungskaskade zwischen Immunzellen und Nervenzellen.

Was ist überhaupt ein Reizdarm?

M. Schemann Wir gehen davon aus, dass durch die initiale Infektion und damit einhergehende Entzündung Schaltkreise im Darm-Hirn verändert werden. Aus bisher noch ungeklärten Gründen verstetigt sich das Chaos im Darm-Hirn, ein Grund warum man auch im Darm eine Art ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) postuliert.

Reizdarm ist nur ein Beispiel von mehr als zwanzig anderen funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen. Der Begriff „funktionell“ ist leider wenig hilfreich, da er im Prinzip nur eine Umschreibung für fehlendes Wissen über die sich dahinter verbergende konkrete Störung ist.

Dieses Dilemma wird langsam aufgebrochen, da seit Kurzem alle funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen als Störungen der Darm-Hirn-Achse bezeichnet werden. Das betrifft Störungen des Darm-Hirns, des Kopf-Hirns und oder der Verbindung der beiden. Das ist immer noch sehr vage, aber besser als „funktionell“ und für Patient:innen griffiger. In zehn, zwanzig Jahren wird es wahrscheinlich die Krankheitsbezeichnung Reizdarm gar nicht mehr geben, sondern wir haben ganz gezielte Beschreibungen der Ursachen für verschiedene Erkrankungen, die Symptome wie Durchfall, Verstopfung, Blähungen und Bauchschmerzen auslösen. Ernährung wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, da Symptome häufig nach bestimmten Mahlzeiten auftreten.

Solange wir die Ursachen nicht vollends gefunden haben, werden funktionelle Darm-Erkrankungen immer eine Ausschlussdiagnose bleiben. Das macht natürlich die gezielte Behandlung enorm schwer, da routinemäßig die vielen möglichen Ursachen nicht untersucht werden können. Eine Tabelle der bisher untersuchten und etablierten Ursachen nur des Reizdarms hätte annähernd fünfzig Zeilen. Es kann natürlich nicht sein, dass das alles zu einer Erkrankung gehört. Ein Beispiel: Patient:innen, die man heute gar nicht mehr als an Reizdarm-Patient:innen bezeichnet. Das sind Patient:innen, die Probleme mit der Konzentration von Gallensäuren im Dickdarm haben.

Die Funktionsstörung wie Durchfall oder Verstopfung werden hierbei durch zu viele oder zu wenige Gallensäuren im Dickdarm ausgelöst. Normalerweise wird die Konzentration von Gallensäuren in engen Grenzen kontrolliert. Bei manchen werden im Dünndarm zu wenige oder zu viele Gallensäuren wieder aufgenommen. Heute werden diese Störungen als Gallensäuremetabolismus-Syndrom bezeichnet. Also eine ganz konkrete ursachenmotivierte Bezeichnung der Krankheit. Das macht eine gezielte Behandlung möglich, da je nach Ursache Medikamente helfen, die Gallensäuren binden oder die Wiederaufnahme im Dünndarm hemmen. Bei der erstgenannten Strategie wird die Konzentration der Gallensäuren im Kolon (Dickdarm) gesenkt, die zweitgenannte Medikation würde die Konzentration erhöhen. Es überrascht nicht wirklich, dass Gallensäuren eine ausgeprägte Wirkung auf Nerven haben und damit die nerval gesteuerten Symptome zu einem Großteil erklärt werden können.

Man sieht, wie Grundlagenforschung in klinische Forschung übergeht und dann der Medizin hilft, Ursachen für Krankheiten zu identifizieren und auch gezielt zu therapieren. Meine Vermutung, Hoffnung ist, dass es in Zukunft für viele der Patient:innen mit funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen eine konkrete Diagnose gibt, mit der dann auch eine erfolgreiche Behandlung möglich wird.

Sind Darm-Hirn und Kopf-Hirn miteinander verbunden?

M. Schemann Was die Beziehung zwischen Darm-Hirn und Kopf-Hirn angeht, gab es in den letzten Jahren spannende Ergebnisse. So zeigt sich immer mehr, dass klassische, zentralnervöse Erkrankungen ihren Ursprung im Darm haben. Sehr gut belegt ist das bei Parkinson. Man geht heute davon aus, dass bei etwa dreißig Prozent der Patient:innen, die an Parkinson-Symptomen leiden, also an den klassischen zentralnervösen Symptomen wie Tremor und Muskelprobleme, die Krankheit im Darm begonnen hat. Erste Hinweise darauf waren, dass einige der Parkinson-Patient:innen, bevor sie überhaupt diese zentralnervösen Auffälligkeiten zeigten, an massiver Verstopfung litten. Das war der Ausgangspunkt, der dann viele Wissenschaftler:innen dazu motiviert hat, in die Tiefe zu gehen. Es gibt inzwischen viele Erkrankungen, zugegeben sind nicht alle so gut untersucht wie Parkinson, für die Ähnliches gilt. Dazu gehören Multiple Sklerose, Autismus und wahrscheinlich auch Alzheimer. All diese Erkrankungen haben auch ein entsprechendes Korrelat im Darm, insbesondere im Darm-Hirn.

Auch im Darm-Hirn kommt es mit zunehmendem Alter zu einem Verlust der Nervenzellen. Ob dies zu einer Alzheimer-Erkrankung des Darm-Hirns führt, ist noch nicht ganz klar. Tatsache ist allerdings, dass mit zunehmendem Alter und Schwund des Darm-Hirns Symptome wie Verstopfung auftreten.

Gibt es Beispiele für Fehlfunktionen des Darm-Hirns?

M. Schemann Es gibt ein sehr anschauliches Beispiel von massiven Auswirkungen einer Fehlfunktion des Darm-Hirns. Die nach seinem Entdecker als Morbus Hirschsprung bezeichnete Erkrankung ist eine Entwicklungsstörung des Darm-Hirns. Normalerweise bevölkern Nerven den Magen-Darm-Kanal von oben und von unten. Sobald sich die „Immigranten“ treffen, wird das Netzwerk geschlossen.

Bei Morbus Hirschsprung kommt es nicht zu dieser Verbindung und es bleibt eine Region von zum Teil nur wenigen Zentimetern, die kein Darm-Hirn besitzt. Diese Art der Entwicklungsstörung verläuft ohne Behandlung durch operative Entfernung des „hirnlosen“ Darmsegments tödlich. Der Vorteil ist, dass an beiden Enden des nun wieder zusammengenähten Darms die Nervenzellen zusammenfinden und auch ihre Zielzellen wieder innervieren.

Was ist der Unterschied zwischen Darm-Hirn und Kopf-Hirn?

M. Schemann Trotz der vielen Ähnlichkeiten zwischen Darm-Hirn und Kopf-Hirn gibt es einen wesentlichen Unterschied. Und der liegt darin, dass das Kopf-Hirn in einer Art Wohlfühl-Oase lebt. Es existiert mehr oder weniger isoliert von schädlichen Einflüssen in einer knöchrigen Höhle mit einer Blut-Hirn-Schranke, die als effektive Barriere für vieles was schädlich ist fungiert. Es gibt zum Beispiel unter normalen Bedingungen keine Entzündung im Gehirn. Beim Darm-Hirn ist das etwas ganz anderes. Das Darm-Hirn ist in der Wand und allen möglichen Einflüssen ausgesetzt, unter anderem kommuniziert es ständig mit Immunzellen, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Da kann es zu fatalen Störungen kommen, die so weit ausarten können, dass die Darm-Immunzellen gegen das Darm-Hirn arbeiten und es im Extremfall sogar zerstören. Solche Autoimmunreaktionen führen zur Entzündung des Darm-Hirns mit sehr schwerwiegenden Symptomen, die quasi Reizdarm-Symptome hoch zehn sind. Dies bezeichnet man als Ganglionitis, eine Entzündung der Nerven.

Lesen Sie auch das Porträt: Professor Michael Schemann – Darm-Forscher und Football-Fan aus Köln auf Koeln-Magazin.info

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