„Das afghanische Volk hat schon zu sehr und zu lange gelitten."
Afghanistan bestimmt heute die Nachrichten mit Meldungen von Selbstmordattentaten, Entführungen und dem Terror der Taliban. Corinna Schlag, Chefredakteurin des „Diplomatischen Magazins" aus Berlin, sprach mit der Botschafterin Afghanistans in Deutschland, I.E. Prof.Dr. Maliha Zulfacar.
Afghanistan bestimmt heute die Nachrichten mit Meldungen von Selbstmordattentaten, Entführungen und dem Terror der Taliban. Dabei galt das islamische Land noch bis in die Siebziger als eines der fortschrittlichsten in der Region. Die friedliebende Flower-Power-Generation der 60er feierte hier sich selbst und ein neues Lebensgefühl.
Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte der Neunzigerjahre katapultierten die Strenggläubigen das Land zurück ins Mittelalter. Afghanistans Botschafterin Maliha Zulfacar über die allgegenwärtige Lebensgefahr im afghanischen Alltag und das zarte Pflänzchen Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.
Der Islam ist in Afghanistan seit Jahrhunderten sehr konservativ ausgelegt worden. Zwar wurde 2001 die Pflicht für Frauen, die Burka zu tragen, offiziell aufgehoben, dennoch ist sie weiterhin allgemeinverbreitet. Jetzt hat Afghanistan eine Frau als Botschafterin. Ist das ein Schritt in Richtung Zukunft?
I.E. Prof. Dr. Maliha Zulfacar: Im gesellschaftlichen Status der Frauen und im Wandel der Geschlechterpolitik in Afghanistan spiegelt sich die umfassendere Politik mit ihren männlich dominierten politischen Strukturen wider.
Die soziale Situation und der gesellschaftliche Status von Frauen waren grundsätzlich abhängig von männlich dominierten politischen Programmen. Lassen Sie uns aber nicht nur die Umstände der letzten 20 Jahre mit den politischen Unruhen im Land betrachten. Afghanistan ist ein islamisches Land, in dem eine moderate Form des Islam praktiziert wurde.
Die Politisierung des Islam in Afghanistan ist ein junges Phänomen. In Afghanistan trafen viele Zivilisationen, Kulturen und Glaubensrichtungen wie Buddhismus und Hinduismus aufeinander, und auch das hellenistische und kuschanische Erbe prägen und bereichern unser Land.
Die Buddhastatuen und viele andere archäologische Funde belegen die pluralistische und multikulturelle Geschichte Afghanistans.
Die Länder, die Afghanistan heute unterstützen, wollen die Frauen stärker in die Politik und den Wiederaufbauprozess einbinden.
Maliha Zulfacar: Die heutigen soziokulturellen Umstände sind ein Ergebnis der jüngeren Geschichte des Landes. Die jüngste Politik der Marginalisierung von Frauen muss im Kontext der übergeordneten geostrategischen politischen Kräfte betrachtet werden.
Die afghanischen Frauen waren stets an der Wirtschaft des Landes, an seinen kulturellen Errungenschaften und an der Sozialpolitik beteiligt. Wie könnte die bäuerliche Wirtschaft eines Landes, das wesentlich auf Subsistenz-Landwirtschaft beruht, ohne Beteiligung der Frauen funktionieren?
In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts besaßen die Frauen gemäß der afghanischen Verfassung von 1964 die gleichen Rechte. Ihre Gleichberechtigung wurde also vor 40 Jahren garantiert. Leider bedeutete das politische Chaos der letzten 20 Jahre einen Rückschlag für die afghanischen Frauen, und sie verloren ihre bescheidenen gewonnenen Rechte in der Gesellschaft. In den 1960ern und 1970ern aber hatten wir zwei Frauen im Regierungskabinett und auch weibliche Parlamentsabgeordnete.
Manche Leute sprechen davon, dass die USA vor sechs Jahren nach den Terroranschlägen in New York in Afghanistan einmarschiert seien und noch heute als Besatzer fungierten. Wie beurteilen sie die Situation?
Maliha Zulfacar: Afghanistan ist kein besetztes Land, Afghanistan war nie eine Kolonie. Die militärische Präsenz von 37 Staaten nach den tragischen Ereignissen vom 9. September gründet sich auf mehrere Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Die Operation Enduring Freedom (OEF) und die International Security Assistance Force (ISAF) helfen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in der Region und beteiligen sich am Wiederaufbau des Landes nach mehr als drei Jahrzehnten Krieg und politischer Unruhen.
Glauben Sie, dass in Afghanistan alle Ihre Ansicht teilen, oder gibt es eine Minderheit, die darüber anders denkt?
Maliha Zulfacar: Die Erwartungen der ganz normalen Afghanen an das Engagement der internationalen Gemeinschaft gehen über deren militärisches Engagement hinaus. Sie wünschen sich ein besseres Leben und hoffenauf eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Die Afghanen haben zu sehr und zu lange gelitten. Die Wünsche des afghanischen Volkes sind einfach: in Frieden und in Würde zu leben. Diese Wünsche sind denen von Eltern in Europa oder anderswo ganz ähnlich:
Sie möchten in Frieden leben und ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Sie wollen ihre Kinder unbedingt zur Schule schicken, damit sie eine bessere Zukunft haben und in Sicherheit leben können. In dieser Hinsicht gehen die Erwartungen also über das militärische Engagement hinaus. Die Menschen wollen Sicherheit und Entwicklungsprojekte in ihrem Land.
Die deutsche Regierung hat beschlossen, die Unterstützung fortzusetzen und gerade diesen Aspekt des Afghanistan-Einsatzes, also die soziale Situation, zu verbessern ...
Maliha Zulfacar: Deutschland und Afghanistan verbindet eine lange historische Freundschaft mit vielfältigen politischen Beziehungen. Die afghanische Bevölkerung bringt den deutschen Bemühungen um den Wiederaufbau des Landes hohe Wertschätzung entgegen. Das Engagement der internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung Afghanistans ist nicht nur für Afghanistan von vitalem Interesse, sondern auch für die Stabilität der Region.
Entführungen und Bombenangriffe machen das Leben in Afghanistan unsicher. Was ist Afghanistans politische Antwort darauf?
Maliha Zulfacar: Die afghanische Regierung wird alles tun, was in ihrer Macht steht, um die Sicherheit und Unversehrtheit der Zivilbevölkerung, der am Wiederaufbau des Landes Beteiligten und aller Besucher des Landes zu gewährleisten.
In Afghanistan engagieren sich mehr als 600 Deutsche in verschiedenen Projekten. Sie leben in unterschiedlichen Teilen Afghanistans und sind an verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Maßnahmen sowie privaten Investitionen beteiligt. Einige Gebiete Afghanistans sind gefährdet, und die Zusammenarbeit mit den zuständigen afghanischen Sicherheitsbehörden bleibt eine wichtige Voraussetzung für ihre Sicherheit und Unversehrtheit.
Mitte August dieses Jahres wurden drei Deutsche am Rande von Kabul getötet. Befürchten Sie, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan darunter leiden könnten?
Maliha Zulfacar: Das war in der Tat eine schreckliche und tragische Nachricht für uns alle. Unser Beileid gilt den Familien der Opfer und den ihnen nahe stehenden Menschen.
Das afghanische Volk leidet seit Jahrzehnten unter solchen Terrorakten.Die jüngsten terroristischen Angriffe galten Kindern, Lehrern und der Zivilbevölkerung. Die Lage erfordert ein weiteres und stärkeres Engagement der internationalen Staatengemeinschaft und der Deutschen, um ein sicheres und besseres Leben in unserem Land zu ermöglichen.
Welche Teile Afghanistans werden von den Taliban terrorisiert? Können Sie uns anhand von konkreten Angaben begreiflich machen, wogegen wir kämpfen?
Maliha Zulfacar: Die instabilsten Gebiete befinden sich in den südlichen und östlichen Regionen des Landes, insbesondere im Grenzgebiet zu Pakistan. In diesen Regionen ist die Kooperation beider Länder im Kampf gegen den Terrorismus von entscheidender Bedeutung.
Beide Staaten leiden unter terroristischen Aktivitäten. Das Hauptthema der letzten „Friedens-Jirga“, die im August dieses Jahres in Afghanistan stattfand, war die regionsübergreifende Zusammenarbeit und Sicherheit. Es muss ein gemeinschaftliches Unternehmen der Regionen sein, zu kooperieren, die Wirtschaft zu fördern und Strategien zu entwickeln, um in Frieden zu leben.
Deutschland ist die zweite Heimat von fast 90.000 Menschen afghanischer Abstammung, mehr als in jedem anderen Land Europas. Was macht unser Land so attraktiv für Ihre Landsleute?
Maliha Zulfacar: Das hat seinen Ursprung in der historischen Freundschaft, die zwischen den Regierungen und den Bewohnern beider Staaten bestand. Die historische Beziehung reicht zurück ins frühe 20. Jahrhundert, als König Amanullah 1928 Berlin besuchte.
Aufgrund dieser Beziehungen hatten die Afghanen die Möglichkeit, ohne Visum nach Deutschland zu reisen, bis zur Mitte der 90er Jahre, als eine Änderung des deutschen Asylrechts erfolgte.
Gibt es weitere Bereiche wirtschaftlicher Zusammenarbeit? Was wird von solchen Kooperationen erwartet? Worauf sollte in Zukunft mehr Wert gelegt werden?
Maliha Zulfacar: Der traditionelle Weg des Wiederaufbaus eines Landes nach einem Konflikt besteht darin, das Land zunächst zu stabilisieren und dann mit dem Wiederaufbauprozess zu beginnen. Afghanistan aber ist kein typischer Postkonfliktstaat.
Unser Land braucht einen umfassenden Ansatz, in dem Militär-, Sicherheits- und Wiederaufbauprojekte gleichzeitig stattfinden müssen. Der afghanische Wiederaufbau sollte nicht als Projekt, sondern als Prozess verstanden werden.
Es geht um ein Land mit einer Geschichte von 30 Jahren ununterbrochener politischer Unruhen.
Verschiedene politische Gruppierungen lieferten sich erbitterte Kämpfe, um an der Macht zu bleiben.
Afghanistan hat kein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem. Wir versuchen, einen nationalen Polizeiapparat aufzubauen.
In einem solchen Land können wir keinen wirtschaftlichen Aufschwung erwarten. In Afghanistan haben nur sechs, vielleicht sieben Prozent der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität.
Und nur 25 - 30% haben Zugang zu Wasser. In Bezug auf Sicherheit, Beschäftigung und Wiederaufbau bleibt sehr viel zutun. Der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten und Capacity Building, die Produktion illegaler Drogen und die Korruption bleiben bedeutende Probleme beim Wiederaufbau des Landes. Die durchschnittliche Bevölkerung ist unbedingt auf Entwicklungsprojekte angewiesen, die Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Jedes Jahr absolvieren fast 50.000 Afghanen eine höhere Schule und hoffen mit ihrem Abschluss auf ein besseres Leben und die Chance auf Arbeit.
Die mehr als 6 Millionen Kinder, die zur Schule gehen, hoffen auf eine vielversprechende Zukunft. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Was benötigt Ihr Land, um den Weg zur „Normalität“ weiter zu beschreiten?
Maliha Zulfacar: Wir brauchen Hilfe in allen Bereichen des Infrastruktur-Wiederaufbaus, vom Capacity Building über die Sicherheit bis zu den öffentlichen Institutionen.
Die Mehrheit der Afghanen wünscht sich in ihrem Leben sicht- und fühlbare Veränderungen. Meiner Meinung nach benötigen wir Unterstützung bei landwirtschaftlichen und ländlichen Projekten, da die meisten Afghanen als Bauern auf dem Land wohnen.
Es müssten Mikrokredite für Landwirte bereitgestellt werden. So könnten wir zur Förderung einer bäuerlichen Kleinwirtschaft beitragen.
Der Bedarf an beruflicher Bildung ist unvorstellbar hoch. Momentan lebt eine ganze Generation ohne jede Ausbildung. In unserem Land sind ganz grundlegende Fähigkeiten zum Wiederaufbau der Infrastruktur erforderlich.
So wird zum Beispiel die Einrichtung technischer und berufsbildender Schulen durch die Deutschen effektive Ergebnisse bringen. Afghanistan benötigt ausgebildete Tischler, Klempner oder Elektriker. Wir müssen Berufsschulen und Wirtschaftsschulen aufbauen, wir müssen Möglichkeiten schaffen!
berlin-magazin.info bedankt sich bei den Kollegen der Redaktion des Diplomatischen Magazins für die Überlassung des Interviews. Die Fotos stammen alle von Mohamed El Sauaf.
Weitere Informationen: www.diplomatischesmagazin.de