Berlin im Licht der Nacht
von Frank Tetzel
Ich liebe die Nacht in Berlin. Die Straßen, die tagsüber voller Menschen sind, bekommen ein anderes Gesicht. Die Stadt ist in ein entrücktes Licht getaucht. Wenn ich dann mit dem Auto durch die scheinbar verlassene Stadt rausche, läuft im CD-Spieler immer Musik.
Musik der leeren Großstadt. Es gibt einen Sound dafür. Till Brönner beispielsweise, der berühmte deutsche Jazztrompeter.
Und es gibt Bücher, die nehmen diese Melodie auf. „Berlin im Licht der Nacht“ ist so eines. Ich habe mich sofort in dieses Buch verliebt. Dieter Grube hat zwischen 2001 und 2006 die Stadt fotografiert, menschenleer. Ampeln, Straßen, ein verirrter Motorradfahrer, Polizei, Notärzte, die ihre Arbeit auch in dieser Schlafenszeit verrichten.
Die Bilder haben etwas sehr poetisches. Unterstützt wird dies noch durch die Auswahl der Texte, die von Paul Boldt, Francoise Cactus, Funny van Dannen, Günter Bruno Fuchs, Annett Gröschner, Heinrich Heine, Franz Hessel, Christopher Isherwood, Walther Kiaulehn, Siegfried Kracauer, Carl Zuckmayer u.a. stammen.
Eine Leseprobe
[…] Dann gingen wir zusammen die Friedrichstraße entlang bis zu den Linden, und sie führte mich, der Berlin nicht kannte, in die behagliche Weinstube von Habel mit ihren ungedeckten Holztischen. Wir begannen Wein zu trinken, wir tranken sehr viel. Das Geld für den ersten Monat hatte ich in der Tasche, mir war gleich, wieviel davon in Habels Registrierkasse blieb.
Wir saßen in einer Ecke und vergaßen, daß es noch andere Leute in dem Lokal gab. Bald sagte ich ihr von meinen Gedichten auf, was mir einfiel. Der Winterabend sank auf die Dächer, dann wurde es draußen dunkel, die Stadtlichter gingen an, und wir saßen noch dort, als sie schon bald wieder erloschen.
In dieser Nacht brach in Berlin ein heftiger Frost aus, vereiste die feuchten Straßen, und als ich gegen Morgen versuchte, die kleine Pension im Westen zu finden, in der ich mich angemeldet hatte – immer noch mit meinem Koffer in der Hand –, wankte und taumelte ich, nicht nur des Weines halber, wie ein Grotesktänzer auf einer Eisfläche herum, die man nur mit Schlittschuhen hätte bewältigen können.
Ich habe nie mehr wieder in einer Stadt eine solche Glätte erlebt, man mußte sich an den Häusern entlangtasten und an Laternenpfähle klammern, um nicht dauernd auf die Nase zu fallen.
An einer Ecke der Augsburger Straße ballte sich ein Haufen schreiender und lachender Menschen aufeinander, die offenbar auch nicht ganz nüchtern waren und beim Versuch, sich gegenseitig aufzuhelfen, immer wieder hinfielen. Einige, die es aufgaben, krochen auf allen vieren in das Lokal zurück, aus dem sie gekommen waren: es war die berühmte Kutscherkneipe der ‚Mutter Mänz’, in der viele Künstler ihren Stammtisch hatten.
Ich wollte als Fremdling elegant an der Gruppe vorbeibalancieren, aber ein Herr, der auf den Knien lag und seinen harten Hut zwischen den Zähnen hielt, klammerte sich an mein Bein, so daß ich selbst zu Fall und auf ihn zu liegen kam. Während wir uns, in vergeblichen Wiederaufrichtungsversuchen, wie die Ringkämpfer beim catch-as-catch-can übereinanderwälzten, fand es der fremde Herr angemessen, sich in aller Form vorzustellen.
„Gestatten Sie“, sagte er mit einem harten Plumps auf den Hintern, „mein Name ist Paul Bildt.“ Er war ein bekannter Schauspieler und zufällig für die Besetzung meines Stückes vorgesehen, dessen Rollenmanuskript er gerade bekommen hatte. Nachdem sich das alles unter immer neuen Kopf- und Rückenstürzen herausgestellt hatte, blieben wir, ohne Hoffnung, jemals wieder auf zwei Beinen zu stehen, auf dem Trottoir sitzen, ließen uns aus der Kneipe Kognak herausbringen und diskutierten Drama und Theater, bis uns der Hosenboden anfror.“